Molekularküche: Das “nanopolitics handbook”
“Nanopolitics as a collective practise is not set up to coordinate and cohere existing ways of doing politics, or make us all do more. With stress, fatigue and burnouts such common experiences, and guilt such a common motivation, it is neither a question of doing more or of doing less, but of trying to do politics differently, to find ways of doing politics that are not at odds with life, with desire and the capacities of our bodies.”
- Nanopolitics Group, London 2013
Wenn sich ein Buch als Handbook ankündigt, als Anleitungs-, Nachschlag-, oder Selbsthilfebuch, so darf das als Appell an den in uns allen schlummernden Heim- und Handwerker verstanden werden. Saubere Info-Boxen und Schritt-für-Schritt Anleitungen verheißen uns goldene GU-Glücksmomente: wir sollen nicht nur lesen und phantasieren, sondern endlich auch Kochrezepte ausprobieren, Yoga-Posen einstudieren, Fahrrad reparieren, Partner massieren! Und sollte es doch nie soweit kommen und wir im Sofa sitzen bleiben, so lässt sich doch eine gewisse innerliche Läuterung zu Gunsten der konkreten Tat verzeichnen: als sei auch schon der bloße Akt des Lesens über Schüssler-Salze und selbstgestrickte Handschuhe eine furchtbar praxisnahe Tätigkeit.
Das nanopolitics handbook hat sich diesen paradoxen Schwebezustand zwischen Theorie, Praxis und Performance spielerisch angeeignet und auf ganz eigene Weise politisiert. Es handelt sich um eine kollektiv verfasste Anthologie der losen nanopolitics group, die 2010 im aktivistischen Umfeld der Londoner Studentenproteste zusammenfand. In rund 20 kritischen Reflexionen, Workshop-Protokollen, Erfahrungsberichten und praktischen Anstiftungen wird hier ein sehr persönliches Territorium skizziert, das sich zwischen Straßentheater und Critical-Theory-Dickicht, internationalistischem Kommunenkochbuch und situationistischem London-Stadtführer, Body-Mind-Centering und feministischen Diskursen zur Politik der Sorge –„Politics of Care“ – bewegt. Dabei werden Texte, Theorie, Kochrezepte und Schritt-für-Schritt Arbeitsblätter (zu Themen wie die effektive Durchführung von Meetings, kolumbianischer Gruppenhypnose oder den Anbau von Tomaten) in einem intelligentem Low-Budget Layout verbunden, das der New Yorker Autonom-Verlag Minor Compositions auch als kostenloses PDF anbietet. Dazwischen schwirren Zeichnungen, Icons, Links und Fußnoten und aller Art umher und verbreiten den Geist der nano-molekularen Anarchie.
Was genau es mit dieser auf sich hat, entzieht sich konsequent einer festen Definition: „We call it nanopolitics. You can call it something else – whatever you call it“[1]. Als begriffliche Klammer der verschiedenen Beiträge steht „Nano“ zum einen für sinnlich erfahrbare Dynamiken und körperenergetische Flüsse im zwischenmenschlichen Bereich: den Atem eines Gesprächs, die Gerüche eines Abendessens, den Schweiß einer Demonstration, den Zusammenhalt einer wiederständigen Gruppe, ob im urbanen oder virtuellen Raum. Zum anderen ist „Nano“ aber auch eine Chiffre für die molekuläre Verstofflichung und körperlich-physikalische Erfahrbarkeit jeglicher Theorie, Information, Kommunikation: „Thinking is not a disembodied process, nor does it have its telos in Language: it’s a process of inventing new ways to move.“[2]. Sinngemäß fordert uns das Handbook auf, vor dem Eintritt in die Nanosphäre erst mal gründlich am Papier zu riechen, das Cover abzuschlecken oder das PDF am Bildschirm rauf-und-runter zu scrollen, mit dem Handbook Geräusche auf dem Tisch machen, es „vielleicht auch parfümieren“[3].
Vom spürbaren Widerstand der gedruckten Materie geht es dann nahtlos weiter zur Materie des Widerstandes. Man möchte motivieren zu einer ebenso heiter-materialistischen wie anti-kapitalistischen Lebenspraxis, steht dabei aber allzu konkreten gesellschaftlichen Projekten sehr reserviert gegenüber. Auf nano-ätherischer Flughöhe von „Projekten“ zu reden, heißt eher, den Telos von zuchtmeisterischen Zukunftsprojektionen kritisch zu hinterfragen, und auch die diversen Formen der Selbst- und Fremdausbeutung zu thematisieren, die projektbasiertes Arbeiten mit sich bringt. Man kennt solche Bedenken spätestens seit Boltanski & Chiapellos Nouvel Esprit du Capitalism (2000) zwar zur Genüge, man kennt auch die inflationären kapitalistischen Selbsthilfebücher und als Forschungs- und Kunstprojekte inszenierten Burnout-Klagelieder des post-universitären Präkariats – von den AutorInnen des handbooks, die vielfach auch bekennende Burnout-PatientInnen sind, erfährt man aber immerhin, das „exhaustion, burnout, depression, fatigue, hyperstimulation, nervousness, racing hearts, insomnia, tinnitus, allergies“[4] längst und gerade auch aktivistische Kreise und Bemühungen um alternative Lebensformen empfindlich erfasst haben. Während uns Mainstream-Medien Occupy Wallstreet, den arabischen Frühling, Gezi Park und neuerdings auch Hong-Kong als eine dynamische Bildstrecke ewig jugendlicher Aufruhr präsentieren, blickt man durch das Handbook auf teils deprimierende Weise hinter die Kulissen, wo das „Projekt“ der gesellschaftlichen Veränderung längst an seine körperlichen Grenzen gestoßen und sprichwörtlich erkrankt ist. Besonders nachvollziehbar sind die Berichte von jahrelangen Kämpfen im neoliberalen Großstadtmoloch London, wo „City“ nur noch „Real Estate“ und „Schauplatz für Finanztransaktionen“ bedeutet, wo horrende Mieten und Transportkosten jegliche kollektive Praxis de fakto verunmöglichen, und brutaler Karrieredruck sowie inner- und intra-universitärer Wettbewerb beständig das Vorurteil nähren „that one cannot possibly do politics over 30, except as a job“[5].
Dem halten die individuellen und kollektiven Nano-Körper praktisch entgegen, was sie – noch – können: spüren, füreinander sorgen, diskutieren, und sich gelegentlich auch auf den Kopf stellen, um in der britischen Spar-und-Security Gesellschaft doch noch das eine oder andere Schlupfloch auszumachen. „I really ‚yield’ into someone else’s body with my own“, heißt es da zum Beispiel über ein nanopolitisches Body-Mind-Centering Experiment, zu dem man sich als Gruppe trotz aller Widrigkeiten zusammengefunden hat. „I percieve the other body alive, moving, palpitating. Then I don’t percieve it anymore, I forget that my hand is pressing someone else’s shoulder, I forget someone’s hand touching my leg. My body becomes limitless in all direction: its shape changes not only outwards but also inwards, it is made of moving fractals.“[6]
Auf theoretischer Ebene lässt sich das spielerisch-spürende „Nano“-Paradigma, wenn es denn eines ist, gerne von Foucault, Deleuze & Guattari und situationistisch-anarchistischem Gedankengut inspirieren: an die Stelle von Machtausübung, Disziplinierungsprozessen und permanenter Reproduktion der Krise sollen Lust, Körper, Sorge und geteilter Affekt treten. Dabei punktet das handbook mit einer eigenwilligen Kreativität und rhetorischen Lockerheit, die sich in Bue Rübner Hansens zwar etwas phrasenhaftem, aber überaus mitreißenden Plädoyer für „Entproletarisierung“ ebenso äußert wie in einer von der AktivistInnen-Gruppe „esquizo-barcelona“ verfassten Dekonstruktion des Begriffs „Las Cuentas“ (monetäre Buchhaltung): sind „Cuentas“ nicht immer auch eine Frage des Zählens und Erzählens („contar“), ebenso wie der „Credito“ eng an Fragen erzählischer „Credibilidad“ und kollektiver Schuld und Rechenschaft geknüpft ist?
Es darf weiters nicht verwundern, wenn am Ende des unorthodoxen handbooks nebst vielen weiterführenden und wenig bekannten anarchistischen Lektüren, Weblinks und Biographien erst recht wieder ein in zahllosen nanopolitics-Sitzungen verfeinertes Nano-Rezept für „polenta nano-cupcakes for friends and comarades“ steht. Es verspricht uns nicht nur durch „molecular transformation via cupcake intake“[7]mittelbare Teilhabe am trans-individuellen AktivistInnen-Leib der nanopolitics group und eine leibliche Stärkung des anarchistischen Durchhaltevermögens, sondern bringt mit schmackhafter Ironie genau auf den Punkt, warum uns eine eklektische und erfahrungsgesättigte Nano-Politik gerade heute so viel zu sagen hat: wo Theorie zwar unendliche Klugheit aber keine lebensverändernde Relevanz mehr besitzt, der tatenfrohe aber allzu konsequente Aktivismus oft an sich selbst scheitert, und die institutionelle Politik weitgehend zu elitärem Sozial- und Kapitalmanagement verkommt, dort tut, wie einst schon in der Antike, ein pragmatisch geerdetes „Handwerk des Politischen“ Not, das unsere aller Köpfe und Körper durch kulinarisch-molekulare Alltagspraxis wieder zusammenzubringen vermag.
Das nanopolitics handbook ist als kostenloser PDF-Download erhältlich unter: http://www.scribd.com/doc/165714607/nanopolitics-handbook